Th. Cottier u.a.: Die Souveränität der Schweiz in Europa

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Titel
Die Souveränität der Schweiz in Europa. Mythen, Realitäten und Wandel


Autor(en)
Cottier, Thomas; Holenstein, André
Erschienen
Bern 2021: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
249 S.
Preis
CHF 30.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jakob Tanner, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte / Historisches Seminar, Universität Zürich

Die vorliegende Studie ging aus einer Tagung hervor, welche die Vereinigung „La Suisse en Europe“ im September 2019 an der Universität Bern veranstaltet hatte. Während der langwierigen, ideologisch aufgeladenen Debatten rund um ein institutionelles Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU entstand aus den Vorträgen ein Buch, das aus historischer und rechtswissenschaftlicher Perspektive einen zentralen Sachverhalt festhält: Dass sich nämlich die Schweiz mit der „Verdrängung von Realitäten“ immer wieder in „Abhängigkeiten und Fremdbestimmung“ hineinmanövriert hat.

Diese These bezieht Erinnerung, Gegenwart und Zukunftsbilder eng aufeinander. Was nationale Souveränität ist oder sein soll, das kristallisiert sich zunächst in der Vorstellungswelt von Bürgerinnen und Bürgern. Und in dieser wiederum spielt die (Un-)Fähigkeit, Fakten und Zusammenhänge anzuerkennen, die zentrale Rolle. Die Autoren konstatieren zu Recht, dass die Europadiskussion in der Schweiz seit einiger Zeit unter Souveränitätsillusionen leidet, welche die Einsicht in das komplexe Bedingungsgefüge staatlichen Handelns systematisch verstellen. Folge davon sind „Sprachlosigkeit“ und „Unverständnis“ im Umgang mit der Europäischen Union. Konsequenterweise schlagen die Autoren den Leser:innen vor, nationalistische Souveränitätskonzepte des 19. Jahrhunderts ad acta zu legen. Nur dann, wenn die fundamentale Verflechtung zwischen Staaten anerkannt und nationale Souveränität nicht mehr als einseitige Selbstbehauptung, sondern als kooperative Mitbestimmung aufgefasst wird, lassen sich in einem Land mitten in Europa zukunftstaugliche innen- und außenpolitische Strategien entwickeln.

Der Historiker André Holenstein entfaltet diese Grundthese im ersten Teil des Buches unter dem Titel „Interdependenz und Integration statt Souveränität im Alleingang“ (S. 13–113). Er schlägt in sieben Kapiteln einen großen historischen Bogen von der Formationsphase der schweizerischen Eidgenossenschaft bis ins 21. Jahrhundert und kommt anschließend auf „Die Lektion der Geschichte“ (S. 94-96) zu sprechen. Gegen eine mythische Erzählung, welche die Schweiz als Resultat eines ungebrochenen „säkularen Kampfes um Freiheit und Unabhängigkeit“ verklärt, zeigt er auf, wie dieses Land inmitten Europas „in einem langen Prozess [entstand], in dem Eigenständigkeit und Einbindung, Autonomie und Abhängigkeit, Souveränität und Verflechtung in einer komplexen Dialektik zusammenwirkten“ (S. 19). Eine starke Pointe setzt Holenstein, wenn er die moderne Schweiz als „Ergebnis eines institutionellen Rahmenabkommens“ (S. 66) begreift. Dies ermöglichte es, die „staatspolitische Dauerkrise“ (S. 66) der Eidgenossenschaft im halben Jahrhundert nach der Helvetischen Revolution (1798) mit der aktuellen Situation zu parallelisieren. Die 1848er-Verfassung beruhte auf „einer zwischen Kantonen und Bund geteilten Souveränität“ (S. 67) und so gelang es, das Staatswesen auf eine entwicklungsfähige, dynamische Grundlage zu stellen. Bestehen blieb indessen die Schwierigkeit, „sich aussenpolitisch und diplomatisch in den wechselhaften politischen Ordnungen Europas zu verorten“ (S. 85). Dieses Problem hat sich in der Nachkriegszeit mit dem europäischen Integrationsprozess verschärft. Seit dem Freihandelsabkommen von 1972 versuchte die Schweiz, ihre Beziehungen zur Europäischen Gemeinschaft bilateral zu regeln und mit der Wende zum 21. Jahrhundert wurde der Bilateralismus „zum Königsweg erkoren“ (S. 87). Heute steckt dieses Konzept in einer fundamentalen Krise. Die vor allem im Programm der Schweizerischen Volkspartei (SVP) dominierende „groteske Geschichtsklitterung“ (S. 17), die auf sakrosankte „Schweizer Werte“ (S. 16) seit 1291 setzt, verstellt die Aussicht auf durchaus vorhandene Handlungschancen.

Wie eine „realistische Beurteilung der eigenen Lage in Bezug auf die größeren Handlungszusammenhänge“ (S. 95), wie sie Holenstein einfordert, aussehen könnte, wird im zweiten Teil des Buches unter dem Titel „Souveränität im Wandel“ (S. 115–248) konkretisiert. Der Völkerrechtler Thomas Cottier liefert zunächst einen (man möchte sagen: souveränen) Zeitraffer durch die Geschichte der Souveränitätslehren. Richtete sich die ursprüngliche Zielsetzung der Souveränität nach innen auf „die Herstellung von Frieden und Sicherung von Wohlfahrt“ (S. 121) auf einem staatlich definierten Territorium, so verlagerte sich diese zunehmend auf eine äußere Funktion. Die moderne Schweiz band sich konstitutionell an das Völkerrecht und Cottier betont, dass in der schweizerischen „verfassungsrechtlichen Konstellation […] überstaatliche Garantien der Rechtsstaatlichkeit unabdingbar“ (S. 163) sind. Dies als Gegengewicht zur Volkssouveränität, die in der Verfassung als solche nicht genannt wird.

Die gegenwärtige Konzeptlosigkeit der schweizerischen Beziehungen gegenüber der EU führt Cottier auf drei Gründe zurück: erstens auf die jahrelangen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, zweitens auf die vorsätzliche Kultivierung eines anachronistischen Souveränitätsverständnisses, und drittens auf „versteckte politische Agenden, welche die Fundamentalopposition der Schweizerischen Volkspartei geschickt ausnützen“ (S. 228). In einer Zeit, in der sich die Nachbarstaaten der Schweiz „von Nationalstaaten zu Mitgliedstaaten einer Union entwickelt“ (S. 231) haben und in der ökonomische Abhängigkeiten und rechtliche Verflechtungen nach außen weiter zunehmen, hat sich die Schweiz indessen vom „Projekt Europa“ entfremdet. Der nationale Röhrenblick lässt generell das Sensorium für den „Common Concern of Humankind“, das heiß für die „gemeinsamen Anliegen und gemeinsame Sorge der Menschheit“ (S. 210) verkümmern.

Das Buch vermittelt originelle Einsichten für die dringend nötige Neugestaltung der schweizerischen Außenbeziehungen in einem sich wandelnden und widersprüchlichen Europa. Es kann als Kompass für all jene dienen, die in der nationalmythischen Nebelwolke der Sonderfallschweiz nach einem Weg suchen, um lösungsorientierte Modelle einer kooperativen Souveränität zu erproben. Für Cottier steht fest, „dass die Schweiz die fortlaufende Erosion ihrer eigenen Demokratie tabuisiert und nicht in der Lage ist, diese durch eine aktive Partizipation auf europäischer Ebene zu kompensieren“ (S. 237). Für ihn wie auch für Holenstein bietet eine Multilevel-Governance die beste Gewähr, um die politischen Strukturen der direkten Demokratie zu bewahren.

Dass sich die Souveränitätsproblematik heute im Vergleich zum Zeitalter der Nationalstaaten verkompliziert hat, stellt die Studie klar heraus. Unterbelichtet bleibt allerdings das Machtverhältnis zwischen demokratisch legitimierter Politik und multinationalen Konzernen, die in der Schweiz eine vergleichsweise hohe Dichte aufweisen. Gerade wenn Souveränität als Entscheidungsmacht verstanden wird, müsste der steigende Einfluss von Shareholder-Unternehmen, Zentralbanken und bürokratischen Apparaten stärker herausgearbeitet werden. Der autonome Nachvollzug des Acquis communautaire und die Umwandlung der Schweiz zur „wirtschaftsrechtlichen EU-Kolonie mit lokaler Selbstverwaltung“ (so Franz Blankart 2010; S. 189) korrespondieren nämlich mit der Interessengemengelage eines Landes, das als „mittlere Handelsmacht“ (S. 218) von einem „Ressourcentransfer aus dem Ausland“ (S. 84) profitiert. Kein Wunder, dass sich, wie Cottier schreibt, Teile der Wirtschaft „Vorteile vom Alleingang und einer eigenständigen Aussenwirtschaftspolitik“ (S. 221) versprechen.

Worin diese Vorteile bestehen, wird allerdings kaum fassbar. Denn um das Zusammenspiel zwischen „wirtschaftlicher Integration und institutioneller Abstinenz“ (S. 5) analytisch aufzuschließen, müssten Fragen der globalen Steuerkonkurrenz, des Transferpricing / Profitshifting sowie die Rolle der Schweiz als internationales Vermögensverwaltungszentrum, als Sitz von Transithandels- und Rohstofffirmen, als Hort der Kapitalflucht und Operationsbasis für organisierte Kriminalität aufgeworfen werden. Aus anderer Blickrichtung wären der Fähigkeit der EU zur unilateralen Normensetzung und zur „Aufwärts“-Regulierung von Grossunternehmen größere Beachtung zu schenken. Dieser von Anu Bradford unter dem Schlagwort „The Brussels Effect“ thematisierte „race to the top“-Effekt kann nicht nur innerhalb des „gemeinsamen Marktes“ konstatiert werden, sondern wurde seit der Jahrhundertwende auf die globale Ebene heraufskaliert.1 Auch in der Schweiz entfalten EU-Richtlinien beträchtliche politische Hebelwirkungen. So hat etwa Rebekka Wyler in ihrer Dissertation „Schweizer Gewerkschaften und Europa“ (2012) nachgewiesen, wie auch hierzulande europäische Betriebsräte durchgesetzt werden konnten.2 Ein „Going European“ manifestiert sich in vielen weiteren Politikfeldern, vom Konsument:innen- und Datenschutz über Finanzdienstleistungen bis hin zur Umweltpolitik – auch wenn diese Entwicklungen zusammengenommen noch längst keine wirksame Antwort auf den Klimawandel sein können.

Holenstein und Cottier legen ein mit aufklärerischem Impetus verfasstes, komprimiertes Stück Gebrauchsgeschichte vor. Abgesehen von einem kurzen Vorwort gibt es keinen von beiden Autoren gemeinsam verfassten Teil, insbesondere fehlt eine Zusammenschau in einem Schlusswort. Was das „grosse Bild“ betrifft, liegt dennoch ein Werk aus einem Guss vor, das sich zügig liest. Es verbindet auf anregende Weise theoretische Reflexion mit praktischem Wissen und sollte vor allem zur Pflichtlektüre jener werden, welche die faktische Europäisierung der schweizerischen Politik bisher ignoriert oder verdrängt haben.

Anmerkungen:
1 Anu Bradford, The Brussels Effect. How the European Union Rules the World, New York 2020.
2 Rebekka Wyler, Schweizer Gewerkschaften und Europa, 1960–2005, Münster 2012.

Redaktion
Veröffentlicht am
15.12.2021
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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